#Brexit – vom Sieg des #Rassismus und der fehlenden #Solidarität in der EU

Die Geister, die Cameron rief

Brexit – die Geister, die Cameron rief, um für sich und seine Partei den Wahlsieg zu sichern, wurde er nicht mehr los. Sein Kalkül, vom Kritiker der Europäischen Gemeinschaft zu deren Verfechter zu werden, um sich beim EU-Referendum als strahlender Sieger feiern zu lassen, ging nicht auf.  Glaubwürdig war seine Charade ohnehin nicht, wer sollte jemanden abnehmen, sich für die Europäische Union einzusetzen, der sie seit Jahren kritisierte, um von eigenen politischen Defiziten abzulenken?

Was Cameron wirklich wollte, wurde im Februar dieses Jahres in den Verhandlungen mit der Europäischen Union deutlich, den Ausbau der Sonderstellung für Großbritannien gegenüber den anderen Mitgliedsländern. Die Rechte der Europäischen Union wahrnehmen, aber einige Pflichten weit von Großbritannien weg weisen, so dachte Cameron könnte er das EU-Referendum für sich entscheiden. Es wurde in den Verhandlungen zwischen der EU und Cameron u.a.  vereinbart, dass Großbritannien Sozialleistungen für EU-Zuwanderer erst nach vier Jahren leisten muss und das Recht zugesprochen, die Banken des Landes selbst überwachen zu dürfen. Nichts was den Menschen in Großbritannien wirklich ihr Leben erleichtert hätte, aber viel, was die Lobbyisten von Cameron erwartet haben.

Der Rücktritt von Cameron ist die einzig richtige Entscheidung, er trägt zusammen mit seiner Partei für die jetzige Lage im Land die Verantwortung, vielleicht sogar für den Zerfall von Großbritannien. Sein möglicher Nachfolger, Parteikollege und Brexit-Verfechter Johnson tut nun so, als ob es für die Briten und die EU einfach weiter gehen würde, es ist auch ihm anzumerken, dass er nicht mit diesem Erfolg des Brexit gerechnet hat, sondern diesen nur zur Sicherung der Macht der  Partei nutzen wollte. Zusammengefasst kann man davon ausgehen, es kann nur schlimmer werden.

Die Geister, die Cameron rief –  Nationalismus und Rassismus –  haben sich über das Land verbreitet, nach dem erfolgreichen Brexit wird sich deren Wirkung noch verstärken. Die irrationalen Ängste vor Überfremdung, die Sicht auf den eigenen Wohlstand, das eigene Auskommen und die Ansicht, als Nation doch etwas besonderes zu sein, dass mehr Achtung (und Rechte) als die anderen Mitgliedsstaaten verdient, haben das Bauchgefühl, aus dem diese Abstimmung erfolgte, genährt. Den nun mögliche Zerfall des Landes dürften die wenigsten einkalkuliert haben.

Wie konnte es so weit kommen? Um einen Einblick in die tief gespaltene Gesellschaft in Großbritannien zu erhalten, muss man unweigerlich zurück die Zeit, als die Eiserne Lady, Magret Thatcher das Land regierte.

Ohne Rücksicht auf Verluste

Um die sozialen Konflikte einordnen zu können, die den fruchtbaren Boden für Nationalismus und Rassismus bilden, um den bereits fortgeschrittenen Grad der Entsolidarisierung in Großbritannien erfassen zu können, muss man in diese Zeit zurück. In die Zeit, als die britische Regierung unter der Premierministerin Thatcher ohne Rücksicht auf Verluste in der sozialen Struktur des Landes auf den freien Markt setzte, auf dessen Selbstregulierung und so weit wie möglich, den Einfluss des Staates auf die Wirtschaft zurückdrängte. Jahre der Auseinandersetzungen folgten, die im Streik der Bergarbeiter 1984/1985 ihr Ende fanden. Die Bergarbeiter brachten damals den Mut auf, ein Jahr lang den Streik aufrechtzuerhalten, gaben erst nach, als die Streikkasse leer war und sie nicht mehr in der Lage waren, Streikgeld auszuzahlen. Der Kampf der Bergarbeiter gegen die Schließung der Zechen und um ihre Existenz, der zunächst Hoffnung gegeben hatte, fand sein Ende und machte klar, die Revolution blieb aus.

Gewerkschaften wurden zerschlagen und verloren an Macht. Die Beschäftigten verloren neben ihrer Arbeit, ihrem Einkommen etwas, was sich nicht leicht wiederfinden lässt – Solidarität. Soziale Ungerechtigkeiten wurden hingenommen, solange man selbst sein Auskommen hatte, der Arbeitsmarkt in der „freien“ Wirtschaft ohne Regulierung durch den Staat würde es schon regeln.  Das ohnehin kritisch zu betrachtende Gesundheitssystem wurde auf das Mindestmaß eingeschränkt. Es verwundert nicht, dass zu Zeiten der Regierung Thatcher der Nationalismus, die Zurückbesinnung auf traditionelle Werte der Briten und der Rassismus regelrecht aufblühten. In Zeiten der sozialen Spannung wird selten nach Argumenten gefragt, sondern nur die Frage nach Schuldigen bedient. Die Entsolidarisierung machte sich mehr als bemerkbar.

In den Folgejahren gelang es nicht, die immer weiter zunehmende Schere zwischen Arm und Reich zu verringern, eine ganze Generation fühlte sich benachteiligt, um ihr Leben betrogen. Hinzu kommen die nationalen Konflikte untereinander, Schotten, Waliser und Nordiren fühlten sich von England dominiert. Schottland, dass nach dem Zusammenbruch der Industrie in England, wirtschaftlich erstarkte, will diesen wirtschaftlichen Erfolg für die Schottland nutzen, nicht für Großbritannien insgesamt. Der Konflikt in Nordirland galt als befriedet, obwohl der ursächliche Konflikt zwischen Protestanten und Katholiken und den jeweiligen politischen Kräften bis heute nicht gelöst wurde. Die Dominanz der nationalen Interessen untereinander als auch die Ansicht, dass Großbritannien als Nation Vorrechte in der Europäischen Union haben müsste, bestärkten den Nationalismus insgesamt und ebneten den Boden für den grassierenden Rassismus.

Rassismus und Gewalt

Mit dem Brexit hat der Rassismus und der Nationalismus gewonnen. Die Brexit-Verfechter haben es geschafft, mit ihrem rassistischen Populismus große Teile der Bevölkerung so aufzustacheln, dass diese davon überzeugt sind, dass die Zuwanderung ihre eigenen Probleme verursacht und nicht etwa der wirkende Neoliberalismus, der weiter von der Regierung verfolgt wird bzw. die auf eine gesunde (Banken-)Wirtschaft ausgerichtete Politik ihrer Regierung. Wir erinnern uns, wer das Referendum ermöglicht hat (Cameron) und somit die beste Gelegenheit hatte, zum einen den schwarzen Peter an die Europäische Union zu vergeben und zum anderen von eigenen sozialpolitischen Fehlern abzulenken.  Die Zuwanderung sei an der Lage im Land schuld und wenn man noch länger in der EU bleiben würde, würde die Zuwanderung Ausmaße annehmen, die dem Land schaden. Diese Botschaften fielen auf den fruchtbaren Boden des Nationalismus, gerade bei den Bevölkerungsteilen, die sich seit Jahrzehnten  als benachteiligt ansehen. Die Saat des Rassismus ging auf.  Wenn nur Bestätigung für eigene Vorurteile gesucht wird, nimmt rationale Argumente nicht wahr. Eine bittere Erkenntnis, die auch für andere europäische Länder, so auch für Deutschland zutrifft.

Mit dem Mord an Jo Cox, die sich als Politikerin der Labour Party sehr für syrische Geflüchtete engagierte und Verfechterin des Verbleibs von Großbritannien in der EU war, wurde aus den monatelangem Rassismus öffentlich wahrnehmbare tödliche Gewalt. Auch hier wurde – wie so oft – der Zusammenhang zum Rechtsradikalismus zunächst verneint, obwohl der Mörder bei der Tat „Britain First“ – den Namen einer rechtsradikalen Partei in Großbritannien – rief. Es sollte kein Zusammenhang zum bevorstehenden Referendum hergestellt werden, es sollte verhindert werden, das Referendum auf das zu reduzieren, was es für die Initiatoren war, der reine Nationalismus. Tatsächlich hat Großbritannien am 23. Juni 2016 nicht nur für den Brexit und den Vorrang von nationalen Interessen gegenüber europäischen Interessen gestimmt, sondern auch für Rassismus und für eine weitergehende Entsolidarisierung im Land. Nichts am Brexit wird die Situation der Menschen in sozial prekären Verhältnissen zum Besseren verändern, es ist eher davon auszugehen, dass die Verhältnisse sich weiter verschlechtern.

Niemand hat am 23. Juni 2016 gewonnen, alle haben verloren.

Der Nationalismus, der gern im Gewand des Patriotismus auftritt und stets Rassismus mit sich führt, ist gewiss kein rein britischen Problem. Im Gegenteil, nationalistische Kräfte in ganz Europa erhalten seit Jahren Zulauf. Und die Regierungen haben nichts besseres zu tun, als im Irrglauben, sie zu entzaubern, ihren Forderungen nachzugeben und sie damit zu stärken. Nationalismus wurde und wird weiter ignoriert. Die Verantwortung für das Voranschreiten des Rassismus  und für die Rückbesinnung auf „traditionelle“ nationalistische Werte tragen alle europäischen Staaten und nicht Großbritannien allein. Die Politik der EU hat diese Ressentiments bedient und trägt somit auch politische Verantwortung für das Geschehene. Die EU kann nicht so tun, als hätte sie mit all dem nicht zu tun.

Der Rassismus hat gewonnen, es gibt nichts daran zu beschönigen und kein neuer Aufbruch zur Reform der Europäischen Union in Richtung solidarische Gemeinschaft macht Sinn, der sich dessen nicht bewusst wird. Das Offensichtliche zu verschweigen bzw. zu ignorieren und ist ebenso ein großer Fehler wie der Brexit selbst. Diese Ignoranz findet man leider auch in der Erklärung der  antikapitalistischen Linken, in der das Ja zum Verbleib in der EU als Fehler angesehen wird und Rassismus als eine der Ursachen des Abstimmungsergebnisses schlichtweg negiert wird:

Die Bevölkerung in Großbritannien wurde in einer einfachen Ja-Nein-Frage befragt, ob sie beim Thema EU noch auf der Seite der Regierungen in London und Brüssel stehe. Und sie hat Nein gesagt. Sie wurde nicht zum nationalistischen Geschrei der UKIP befragt, nicht zu Obergrenzen der Immigration und nicht zur Frisur von Boris Johnson. Das Nein ist hier die einzig angemessene Antwort. Auch für Linke, SozialistInnen und KommunistInnen. Wer bei dieser Abstimmung zuhause geblieben ist, sich enthalten oder mit Ja gestimmt hat, der oder die hat einen schweren Fehler und sich gemein mit der herrschenden Elite des kapitalistischen Europas und seiner aktuellen Politik gemacht.

Keine Zukunft für und mit EU – Erklärung antikapitalistische Linke vom 25.06.2016 

Ich kann nicht in Worte fassen, wie mich diese Ignoranz realer politischer Zusammenhänge trifft. Es zeigt aber auch, wie uneins sich die Linken in Europa sind, welcher Weg dann zum Ziel einer europäischen Solidargemeinschaft führt. Diskussionen, ob man „zunächst“ den nationalen Weg gehen sollte, werden geführt und haben auch Zuspruch im linken Lager. Nur ohne eine geeinte Linke, wie soll es in Europa eine wirksame politische Kraft geben, die nationalistischen Tendenzen entgegentritt?

Die Freude über den Brexit und die positive Aufbruchstimmung, die nach Feststehen der Entscheidung in sozialen Medien geteilt wird und heute auch die Tagespresse erreicht hat, hat mich mehr aus der Spur gebracht, als der Brexit selbst. Dieses Maß an Ignoranz habe ich nicht erwartet, ebenso wenig wie die Annahme, dass es jemand für möglich hält, dass aus Rassismus etwas Positives erwachsen könne.

Ich habe die letzten drei Tage sehr viel gelesen, einiges davon verlinke ich hier, was meiner Einschätzung so ungefähr gleichkommt – lest selbst.

Dominic Heilig„You cannot unscramble the egg“

Halina WawzyniakVereinigte Staaten von Europa – jetzt konkret angehen

Johanna BussemerInsel wird wieder Insel (Rosa Luxemburg Stiftung) 

 

Großbritannien will aus der EU und bricht auseinander – soll es doch?

Der Brexit birgt – wie erwähnt – die Gefahr, dass Großbritannien auseinander bricht. Man konnte in den letzten Tagen den Eindruck gewinnen, dass dies kaum jemanden interessiert. Die haben ja abgestimmt, jetzt müssen sie die Konsequenzen tragen und dürfen die EU nicht gefährden. So in etwa die Argumentationslinie und es war viel von Unsicherheit die Rede.

Es ist erschreckend, wie eilig es einige Politiker in der Europäischen Union haben, Großbritannien loszuwerden. Fünf der sechs Gründerstaaten der damaligen EWG drängen auf zügige Austrittsverhandlungen. Auch der Präsident der Europäischen Union verlangt die schnelle Aufnahme der Austrittsverhandlungen durch Großbritannien

 

und die großen Fraktionen des europäischen Parlaments schließen sich dem an.

 

Der Druck auf Großbritannien wächst. Da ist es gleichgültig, dass das Referendum ohne Parlamentsbeschluss (den es noch nicht gibt) nicht bindend ist, auch wenn die Chance, dass der Brexit aus politischem Kalkül beschlossen wird, sehr groß ist. Wieder blinder Aktionismus, nur dieses Mal von der politischen Ebene der EU – als würde sich davon auch nur ein Nationalist beeindrucken lassen.

Die Krise ist bereits da, das liegt auch daran, dass sich die EU als Gemeinschaft nicht viel mit dem Brexit beschäftigt hat, zu unwahrscheinlich wurde der jetzige Ausgang gehalten. Die Krise lässt sich nicht wegreden. Ja es ist Zeit zum Handeln, aber eher zu spürbaren demokratischen und sozialen Reformen innerhalb der EU, um überhaupt die Chance zu haben, das verlorene Vertrauen in die Gemeinschaft zurückzugewinnen.

Die Forderung nach schnellen bzw. sofortigen Austrittsverhandlungen  wird mit Unsicherheit innerhalb der EU und dem Respektieren der demokratischen Entscheidung der Wähler*innen argumentiert. Ich halte diese Gründe für vorgeschoben.

Demokratische Entscheidung

Abgesehen davon,

  • dass es eine relativ knappe Entscheidung war;
  • sich auch die Regierung in Großbritannien fragen müsste, wie fange ich jetzt die 48 % auf, die in der EU verbleiben wollen;
  • selbst der Brexit-Befürworter die Wiederholung des Referendums im Falle des Unterliegens am Donnerstag Abend noch ankündigten und jetzt davon nichts mehr wissen wollen –

muss gefragt werden, ob die Abstimmenden sich über die Tragweite der Entscheidung bewusst waren – in einem uninformativen Wahlkampf voller Rassismus und Ressentiments, in dem auch die Remain-Befürworter eher mit den wirtschaftlichen Folgen argumentierten, aber kaum über die sozialen und politischen Folgen informierten.

Google vermeldete nach Feststehen des Brexit hohe Zugriffszahlen in Großbritannien über die Folgen des Brexit. Waren also die Abstimmenden informiert? Und wenn sich über die wirtschaftlichen Folgen informiert waren und diese in Kauf genommen hätten, wollten sie auch den jetzt möglichen Zusammenbruch ihres Landes? Das ist die Tragweite, die mir Sorgen bereitet. Wie gehen wir mit demokratischen Entscheidungen um, die auf einer mangelnden Informationsbasis getroffen wurden? Es ist ja keine Wahl, in der man sich auf repräsentative Demokratie verlassen kann, die es irgendwie richten wird. Es war eine direkte Entscheidung, ein Referendum über die Zukunft Großbritanniens.

Um auch nur annähernd Entscheidungen auf gleicher Augenhöhe wie die Politik treffen zu können, sollte man auch deren Informationsstand haben. Die Entscheidung über einen Austritt aus der Europäischen Union war angesichts der langen Mitgliedszeit Großbritanniens und der daraus erwachsenen vertraglichen Bindungen komplexer als beispielsweise eine vergleichsweise übersichtliche Situation zum Beitritt in die Europäische Gemeinschaft. Können wir davon ausgehen, dass die, die ihre Stimme abgegeben haben, über diese komplexen Informationen verfügen konnten oder davon ausgehen, dass ihnen im Wahlkampf diese Informationen gegeben wurden? Ich denke nein, das kann man nicht. Es wäre ohnehin schon eine Frage beim Beginn des Referendums gewesen, ob eine derartige komplexe Entscheidung überhaupt nur durch ein Referendum ohne vorbereitende parlamentarische Entscheidungen zu treffen wäre. Nur hat es da niemanden in der EU interessiert und jetzt scheint es zu spät zu sein. Mit einer JA / NEIN Frage über diese Komplexität zu entscheiden, war zumindest höchst fahrlässig. Allerdings wurde das Referendum und somit die direkte Demokratie auch nur benutzt, um die Macht von Cameron und seiner Partei zu sichern, die wirkliche Ansicht der Bürger*innen von Großbritannien zählte da weniger.

Wenn das britische Parlament nun nur den Willen der Brexit-Befürworter folgt, manifestiert es  die Spaltung im Land und forcieren den Zusammenbruch von Großbritannien. Diese Gefahr muss auch die Europäische Union sehen und kann sie nicht einfach ignorieren.

Im Sinne der Solidarität – noch ist Großbritannien Mitglied der EU – wäre zumindest von der Europäischen Union zu erwarten, dass sie Großbritannien, dem britischen Parlament, den Menschen in Wales, England, Schottland und Nordirland  Zeit und Ruhe geben, mit dieser Entscheidung klarzukommen. Zeit zu geben, dass zwischen Wales, England, Schottland, Nordirland und der britischen Regierung möglicherweise Verhandlungen für das weitere Zusammenleben in Großbritannien geführt werden können, ohne dass durch Verhandlungen mit der Europäische Union schon Ergebnisse vorweg genommen werden. Zeit zu geben, auf welchem Weg Großbritannien die Europäische Union verlassen will, wenn es denn wirklich will.

Die Unsicherheit

Das Argument, wenn jetzt nicht sofort die Austrittsverhandlungen beginnen, wäre der Erhalt der Europäischen Union in Gefahr, ist nicht mehr als eine Kurzschlussreaktion. Begründet wird diese These damit, dass vorhandene nationalistische Kräfte in anderen EU-Mitgliedsstaaten, die weitere Austritte befürworten, die Konsequenzen einer solchen Entscheidung sehen sollten. Dabei fehlt die Erkenntnis, dass die Europäische Union bereits mitten in einer tiefen Krise steckt und eher die Abwägung von Handlungen erforderlich wäre, als der eingeschlagene Kurs, Großbritannien so schnell wie möglich aus der EU zu bekommen, zu verfolgten.

  1. Die Unsicherheit, vor der man sich fürchtet,  ist bereits da, sie wird nicht geringer, nur weil man früher mit Verhandlungen anfängt.
  2. Wer glaubt eigentlich daran, dass nationalistische Kräfte sich von der Forderung des Exit aus der EU abbringen lassen, nur weil Austrittsverhandlungen mit Großbritannien laufen, die über zwei Jahre andauern können?
  3. Welchen Stellenwert hat eine Gemeinschaft, die ein „Erziehungs-Exempel“ statuieren will, um andere Austrittswilige zu disziplinieren bzw. in der Gemeinschaft zu halten?
  4. Wie nachhaltig sind Entscheidungen der Europäische Union, die sich von Unsicherheit – Angst – Befürchtungen leiten lassen?

Es ist die fehlende Solidarität und das leichtfertige Abwerfen eines Mitgliedslandes, dass das bereits bestehende Ausmaß der Krise deutlich macht. Niemand, der sich innerhalb der EU Gedanken darüber macht, ob ein Verbleib noch möglich wäre oder wie man den Übergang zum Brexit so gestalten kann, dass sowohl der Staat Großbritannien erhalten bleibt und die Armutsschere zwischen Arm und Reich nicht noch größer wird. Zur Erinnerung, 48 % haben sich gegen den Brexit entschieden, in den letzten Tagen wurde deutlich, dass manche, die ihr Kreuz für den Brexit gemacht haben, dass eher als Protest angesehen haben und nicht als endgültige Entscheidung zum Verlassen der EU. Die überlassen wir jetzt alle sich selbst? Dieses Verständnis von Solidarität kann ich nicht nachvollziehen. Es ist der Umgang mit dem schwächsten Glied, der die Stärke einer Gemeinschaft bestimmt, derzeit wird das schwächste Glied einfach aus der Gemeinschaft herausgeschnitten. Es steht so viel auf dem Spiel, viel mehr als man im ersten Augenblick erkennt oder bereit ist, zu erkennen.

Der mögliche Zerfall 

Nach der Entscheidung zum Brexit wurden schnell das bereits im Vorfeld des Referendums viel diskutierte mögliche Verhalten von Schottland und Nordirland auf dem Wege zur Souveränität bzw. Wiedervereinigung zum Thema. Geradezu euphorisch wurde in sozialen Medien von Menschen, die ich als progressiv und eher links einschätzte, vermeldet, man würde Schottland in der EU (nach erfolgreichen Referendum zur Souveränität) mit Freuden begrüßen. Haben wir nicht auch noch vor geraumer Zeit mitgefiebert, als das Referendum zur Unabhängigkeit von Schottland scheiterte, weil wir darin einen nationalen Alleingang gesehen haben? Was ist jetzt anders, dass wir bereit sind, Großbritannien für die Souveränität von Schottland aufzugeben?

Auch die Nachricht, dass Nordirland, das sich nur mit knapper Mehrheit von 57,7 % für den Verbleib in der EU entschieden hat, nun ein Referendum zur Wiedervereinigung mit Irland wünscht, hat mich nicht gerade in diese Euphorie gebracht. Wir schauen einfach zu, wie ein Land zerfällt und freuen uns zum Teil über den Verfall? Wer glaubt, dass die 42,3 % in Nordirland ein Referendum zur Wiedervereinigung mit Irland begrüßen, wo sie sich doch für die nationalen Interessen von Großbritannien entschieden haben? Nordirland – in dem das Konfliktpotential zwischen Protestanten und Katholiken und den jeweiligen politischen Kräften nach wie vor besteht, der grundlegenden Konflikt nie gelöst wurde, wird nun ein weiterer Konflikt auferlegt.

Es stimmt, sowohl politische Kräfte in Schottland als auch Nordirland haben sich im Vorfeld zum Referendum für den Verbleib in der EU ausgesprochen. Das habe ich auch als sehr positiv wahrgenommen. Mein Problem ist, kann man allein daraus schließen, dass Nationalismus in beiden Landesteilen kein Problem  ist oder ist der Brexit bzw. die EU nur ein Sprungbrett in die nationale Souveränität? – Ich weiß es nicht.

Können wir einerseits eine europäische solidarische Gemeinschaft beschwören und andererseits einfach England und Wales fallen lassen und uns lediglich Schottland und Nordirland zuwenden? Was ist das für ein Verständnis von Gemeinschaft, was ist das für ein Verständnis von Solidarität? So viele Fragen und ich habe (bisher) keine Antworten.

Und jetzt?

Aufgeben kommt nicht in Frage, dafür ist mir eine solidarische, europäische Gemeinschaft zu wichtig, also weiter für Reformen einsetzen.

Für die Probleme, die vor Europa liegen, werden internationale und keine nationalen Lösungen benötigt. Das sollte unbestritten sein, ich hoffe es jedenfalls. Die Europäische Union ist für mich die Mindestgröße dafür, derartige Lösungsansätze zu verfolgen. Nationale Lösungen zu beschwören war für mich nie nachvollziehbar, ist für mich nicht nachvollziehbar und wird es auch nicht sein. Das ist nicht das, was ich unter einer solidarischen Gemeinschaft verstehe.

Die EU kann (immer noch) von innen heraus reformiert werden – zu den Reformen gibt es keine Alternative.  Die EU hat ihre Defizite in Politik und Demokratie, aber sie zu zerstören oder aufzugeben, kann nicht der Weg zu einer europäischen, solidarischen Gemeinschaft sein. Wer glaubt, aus der Zerstörung der EU ließe sich einfach etwas anderes aufbauen, der irrt. Die Mitgliedsstaaten werden bei Zerfall der EU in ihr Nationalstaaten-Muster zurückfallen und sich je nach geografischer Lage möglicherweise auch andere Bündnisse eingehen oder sich diesen zuwenden.  Etwas zu zerstören, dass über Jahrzehnte gewachsen ist, kann nicht einfach wieder – wenn auch in anderer Form – aufgebaut werden, wenn der Grundbaustein, das Vertrauen, fehlt oder sogar unwiederbringlich zerstört wurde.

Bei allem Pessimismus, den ich für Großbritannien nach dem Brexit habe, mein Optimismus für die Reformierbarkeit der Europäischen Union ist weiterhin vorhanden. Die EU braucht diese soziale und demokratische Reformen um als Gemeinschaft bestehen zu können. Sie braucht Strategien gegen Nationalismus und Rassismus. Diese Reformen sind erreichbar, wenn sich alle linken, sozialen Kräfte einig werden, dass ist momentan leider (noch) nicht der Fall.

 

 

Hinterlasse einen Kommentar